2005-Jahr der Jubiläen

erschienen in medienimpulse 50 

Gedenkjahre 1945-1955-2005

„Runde“ Geburtstage feiern wir anders als die jährliche Erinnerung an die Geburt. Sie üben eine größere Faszination aus, als die jährliche Gedenkfeier an das prägende individuelle Elementarereignis. Die Zahl der Eingeladenen ist größer, der Rahmen feierlicher, aber das Ereignis steht kaum im Mittelpunkt. Wer käme dabei auf die Idee, die Mutter als „Zeitzeugin“ auftreten zu lassen, um die Geburt des Geburtstagskindes zu reflektieren?

Anders werden öffentliche Gedenkjahre gefeiert. Das Ereignis, dessen man gedenkt, wird in Erinnerung gerufen. Je weiter es von der kollektiven Erinnerung entfernt ist, desto geringer ist die Selbstverständlichkeit der Gegenwartsbedeutung des zu erinnernden Ereignisses, desto weniger offensichtlich ist der Alltagsbezug. Gedenkanlässe werden geschichtspolitisch instrumentiert, es wird eine Deutung für die Gegenwart versucht oder eine Erinnerungskultur korrigiert. Es kann aber auch postmoderne Beliebigkeit oder missverstandene „political correctness“ dazu führen, möglichst viele Gedenkjahre zu verkünden, um nur ja nicht den Fehler des Nicht-Gedenkens zu begehen. Gerade das Jahr 1945 birgt so viele Daten, denen rund um die Welt als Identitätsstiftung, Geschichtskultur oder auch einfach aus Siegesfreude Erinnerungen zu widmen sein werden. Nationale Kontexte stehen dabei neben kollektiven Bewusstwerdungen, staatshistorischen Interpretationen, individuellen Bezeugungen und der Verführung aus Vergangenheiten Konstrukte gegenwärtiger Rechtfertigungen und tagespolitische Begründungsformeln zu machen. Selten sind Jahreszahlen, die derart einhellig konnotiert sind: Wer würde es wagen, öffentlich das Ende des Nationalsozialismus zu bedauern?

„Runde“ Gedenkjahre legen nahe, sich mit den Codes der Repräsentation des zu gedenkenden Ereignisses und dessen Repräsentation in den vergangenen Jahren  zu befassen, denn „die Kodierungen der Repräsentation können historisiert werden, d.h. heutiger Lesbarkeit zugeführt werden, indem die jeweiligen bildsprachlichen Faktoren in ihren historischen Bezügen […] re-konstruiert werden.“ [1] So wie bei einer Geburtstagsfeier nicht das Ereignis der Geburt gefeiert wird, sondern die Repräsentation des Geburtstagskindes in Vergangenheit und Gegenwart, wird auch bei öffentlichem Gedenken nicht das Ereignis an sich im Mittelpunkt stehen, sondern die Einordnung des Anlassfalles in einen politischen oder gesellschaftlichen Kontext. Damit entschwindet das Gedenken den Händen professioneller Historiker. Demokratische Gesellschaften legitimieren sich durch die Pluralität der Artikulationen von Geschichtsbewusstsein, mit jeweils eigenen Sichtweisen, Absichten und Leitbildern, unterschiedlichen Inszenierungen, Kommerzialisierungen und Polarisierungen. “Geschichtskultur ist […] die durch das Geschichtsbewusstsein geleistete historische Erinnerung, die eine zeitliche Orientierung der Lebenspraxis in der Form von Richtungsbestimmungen des Handelns und des Selbstverständnisses seiner Subjekte erfüllt.“ [2]

Ausprägung und Relevanz

Grundsätzlich fokussieren Gedenkjahre drei Zeitflächen: Das Datum des Ereignisses, dessen Geschichten als Kontextualisierungen und Bedeutungszuweisungen in der Zeit zwischen Ereignis und Gedenkjahr und schließlich deren Reflexion in eine gegenwärtige, zukunftsorientierte Lebenswelt. Die gegenwärtige Relevanz ist nicht durch grundsätzliche Unkenntnis eines zu gedenkenden Ereignishorizonts gekennzeichnet, sondern durch ausgeprägtes Welt- und/oder Selbstverständnis und einer Handlungsdisposition, die das Gedenken leitet, mit all jenen Manifestationsformen, die den Anlass als Fragestellungen in die Gegenwart projizieren, auf die das Gedenken Antworten und Orientierung geben soll. Gedenkjahre führen, ob beabsichtigt, bewusst darauf abgezielt, oder zufällig, ungesteuert, zu neuem Welt- und Selbstverständnis und zu neuen, zukunftsorientierten Handlungsdispositionen. Gleichgültig, ob und wie die Steuerungsmedien des politischen Systems, Macht, Geld oder Recht eingesetzt werden, oder lebensweltliche Ansprüche an das politische System geltend gemacht werden, kommunikative Prozesse die Geschichtsbewusstsein re-organisieren werden in Gang gesetzt. Die Präsentation von Gedenken kann nicht ohne Reflexion auf Vergangenheit durch Geschichte erfolgen und kann auch nicht ohne Darstellung von Deutungsvarianten und ohne Informationen, die zur Re-Rekonstruktion von Geschichtsbewusstsein befähigen, auskommen. In dem Moment, in dem Gedenken öffentlich zelebriert wird, beginnt eine lebensweltliche, Interessen geleitete  Kommunikation. Fragen von Individuen oder gesellschaftlich organisierten Gruppen können keine vorkategorisierten Antworten finden, weder sachlich noch methodisch. Organisierbar ist in demokratischen Gesellschaften die Aneignung von Sach- und Methodenkompetenzen und der Zugang zu Informationen, mit dem Ziel, die Auseinandersetzung mit Fragestellungen durch den Filter lebensweltlicher Relevanz zu befördern. Insofern sind Gedenkjahre eine Chance zur Selbstreflexion, das Zurechtfinden oder auch die Identitätsfindung anzuleiten, um den pluralen Charakter demokratischer Selbstorganisation an den Schnittstellen von System und Lebenswelt kommunikativ offen zu legen. Damit wird sicher gestellt, dass Gedenken als kommunikative Operation funktionieren kann, zumindest aber das Gedenk-Angebot, der Sinn der Fragen, akzeptiert werden kann. [3]

Gedenkjahre strapazieren Gedächtnis und Erinnerung, besonders in einer den Kulturwissenschaften zugeneigten Gegenwart. Beide Begriffe stehen beim Individuum in einer einfachen Ordnung: Zum Erinnern bedarf es des Gedächtnisses. Die Hochkonjunktur der popularisierten Zeitgeschichte ruft jede und jeden auf Forscherin und Forscher zu sein und ermuntert Symbole der Historizität der Umwelt zu suchen, zu erfragen, zu erkennen und zu deuten. Politische Systeme wären schlecht beraten, die Symbolkraft von Gedenkjahren nicht für die Kommunikation mit der an Erinnerungen interessierten Öffentlichkeit zu nutzen, wie auch jene schlecht beraten wäre, dieses Verständigungsangebot nicht zu nutzen. Das Ergebnis der sogenannten „Waldheim-Debatte“ 1988, 50 Jahre nach dem „Anschluss“, war eine veränderte kollektive Wahrnehmung des Nationalsozialismus im Gebiet der Republik Österreich, die etwa der Aufarbeitung durch die Historikerkommission oder der konsensualen Abwicklung von Restitutionen den Weg wies. Von der These, Österreich wäre das erste Opfer des nationalsozialistischen deutschen Reiches gewesen, die auch den Umgang mit den tatsächlichen Opfern außen- und innenpolitisch bestimmte, wurde abgerückt..[4]

Der Ereignishorizont 1945

Die Problematik des Gedenkjahres 2005 besteht bereits in der genaueren Bestimmung eines Datums des Jahres 1945, das in das Zentrum des Gedenkens gestellt werden kann. Die Ereignisse existieren in der Erinnerung als Handlungsräume, zB. Jalta, Potsdam, Hiroshima, Kriegsende im Heimatort, Kriegsende an der Front, im Lager, als militärische oder politische Handlungen, etwa Kapitulation, Befreiung, Besetzung, Zerstörung, aber auch als subjektives Handeln wie flüchten, untertauchen, herauskommen, aufräumen, gründen, richten, trauern. Erinnern ist assoziativ.

Die Bandbreite der Möglichkeiten die Vergangenheit zu befragen kann an zwei Beispielen [5] aufgezeigt werden. Auf gesamteuropäischer Ebene wird die Konferenz von Jalta und die Konferenz von Potsdam mit Frieden und dem Beginn des Kalten Krieges verbunden [6].

  • In what kind of a world were people living in 1945?
  • What happened in each country in 1945? (e.g. final battles, action by partisan groups, liberation or occupation, new governments being formed, dealing with collaborators, soldiers returning home, the peace conferences, etc)?
  • How were public attitudes towards the US, the USSR and their allies expressed in the media during 1945?
  • Were there any signs of a change in attitudes over the year?
  • How did people in each country react to news coming out about the peace conferences at Yalta and Potsdam?
  • How was each European country affected by the terms of the peace?
  • What was happening outside Europe?
  • Was the CoId War inevitable?

Auf österreichischer Ebene verbindet das „Österreichalbum“ die Jahre 1945 und 1955. [7] Damit tritt in Österreich neben 1945 mit 1955 ein weiteres „rundes“ Gedenkjahr hinzu und erweitert die Betrachtbarkeit des Gedenkens 2005. Die Fokussierung kann einerseits auf das Kriegsende gerichtet werden und somit die Zeit vor 1945, den Krieg und die Nazi-Ära betrachten, zum Zweiten das Jahr 1955 mit dem Staatsvertrag und dem Abzug der meist als „Besatzungsmächte“ bezeichneten „Befreier“ des Territoriums der Republik Österreich daneben stellen, zum Dritten die Zeitspanne zwischen 1945 und 1955, die sogenannte „Besatzungszeit“ historisieren. Jede Veranstaltung wird über ein Datum und ein einzelnes Ereignis hinaus eine ganze Reihe von Nebensätzen einbeziehen müssen. Dieser Kontext wird jenem Datum und jenem „eigentlichen“, zur Erinnerung Anlass gebende Ereignis die beabsichtigte Bedeutung zuweisen.

Schon anhand einer unvollständigen Auflistung kann die Vielzahl von Ereignissen und Gedenkdaten sichtbar gemacht werden, denen „man“ sich, je nach kollektiver oder individueller Geschichtszuordnung bevorzugt erinnern will.

Der „Befreiungstag“, der 13. April 1945 an dem die Rote Armee Wien „befreite“[8] wurde ab 1946 vor allem in Wien, aber auch in den anderen Bundesländern gefeiert, Schülerinnen und Schüler hatten frei, Betriebe wurden geschlossen um die Teilnahme an der Feiern zu ermöglichen.

„Die ursprünglich vor allem in Wien von breiterem Zuspruch getragenen Gedenkfeiern – sie dauerten 1946 drei Tage! – verloren jedoch bald ihre ursprüngliche Akzeptanz angesichts der immer länger dauernden alliierten Besatzung, für die der Sowjetunion die Hauptverantwortung angelastet wurde. Niemand geringerer als der kommunistische Nationalratsabgeordnete Ernst Fischer brachte dies bereits anlässlich des „Tages der Befreiung“ 1948  in einer Festrede vor der „Gesellschaft zur Pflege der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion“ zum Ausdruck, wo er in Anwesenheit des sowjetischen Hochkommissars Kurassow darauf hinwies:“ Die meisten Österreicher könnten sich heute eines bitteren Lächelns kaum erwehren, wenn sie das Wort ‚Befreiung‘ vernähmen. Der Tag der Befreiung sei in ein Regime der Besetzung übergegangen, dessen Ende das österreichische Volk aus tiefstem Herzen herbeisehne. Die kampferprobte Sowjetarmee erwarte nicht billige Lobhudelei, sondern freundschaftliche Aufrichtigkeit. Das ungeduldige Verlangen nach dem Abzug aller Besatzungstruppen könne das echte Gefühl für die Sowjetarmee nicht beeinträchtigen.“[9]

1954 wurde die Beflaggung öffentlicher Gebäude nicht mehr durchgeführt, eine Reaktion auf den „enttäuschenden Verlauf der Verhandlungen über den Staatsvertrag auf der Berliner Konferenz, für den die Sowjetunion von den Österreichern verantwortlich gemacht wurde […]“.[10] Staatsvertragsunterzeichnung und Abzug der „Besatzungstruppen“ verdrängten 1955 das Kriegsende aus dem politischen Bewusstsein.

Zu Gedenken wäre dem 27. April 1945, an dem die Vertreter der „Sozialistischen Partei Österreichs“, der „Österreichischen Volkspartei“ und der „Kommunistischen Partei Österreichs“ eine gemeinsame „Unabhängigkeitserklärung“ erließen, [11] die noch am gleichen Tag von der unter Karl Renner gebildeten Provisorischen Staatsregierung beschlossen wurde.

Auch der 1. Mai 1945 könnte als wichtiges Datum geschichtspolitisch verstanden werden, da an diesem Tag mit dem „Verfassungsüberleitungsgesetz“, das Bundesverfassungsgesetz von 1929 in der Fassung vom 5. März 1933 als „Vorläufige Verfassung“ in Kraft trat. [12]

Schwieriger ist es ein Datum für das Kriegsende für das gesamte Bundesgebiet anzugeben. Bereits am 7. Mai wurde sämtliche Kampfhandlungen eingestellt, am 7. Mai erfolgte die Unterzeichnung der Kapitulation des Deutschen Reiches in Reims, am 9. Mai, diesmal vor Vertretern der Sowjetunion, in Berlin Karlshorst. Am 23. Mai wurde die Regierung des Reichspräsidenten Dönitz in ihrer Enklave Flensburg verhaftet. Der 8. Mai, der Tag an dem um Mitternacht sämtliche Kampfhandlungen eingestellt wurden, ist jenes Datum, das auf gesamteuropäischer Ebene im Mittelpunkt steht. Diese europäische Sicht kontextualisiert einen weiteren „runden“ Jahrestag, den EU-Beitritt Österreichs 1995.

Zu gedenken wird ferner an den 25. November 1945, als dem Tag der ersten freien Wahlen der 2. Republik sein müssen. 64% der Wahlberechtigten waren Frauen, die Wahlbeteiligung lag bei 94,3 %. Ergebnis war eine absolute Mehrheit der ÖVP mit 85 Mandaten, die SPÖ erreichte 76 und die KPÖ 4 Nationalräte. Der Parteiobmann der ÖVP, Leopold Figl wurde am 18. Dezember vom Alliierten Kontrollrat als Bundeskanzler einer Allparteienregierung anerkannt, am 20. Dezember trat die Provisorische Regierung Renner zurück. Karl Renner wurde von der Bundesversammlung am gleichen Tag einstimmig zum Bundespräsidenten gewählt.

Die berühmte Radiorede Leopold Figls vom 24. Dezember 1945 wird hingegen historisches Gedenken finden können,[13] denn die Tonaufnahme der „Weihnachtsansprache 1945“ wurde wesentlich später von Figl nachgesprochen. [14]

Österreichische „Gedächtnis“geschichte: Der Ereignishorizont 1945-1955

Zum Glück für die österreichische Gedenkkultur liegen das Kriegsende und das Ende der „Besatzungszeit“ 10 Jahre auseinander, sodass das Gedenken an das eine Ereignis das andere mitdenken lässt. Dabei gerät allerdings diese Zeitspanne selbst ins Zentrum des Erinnerns, des öffentlichen, politisches Bewusstsein konstituierenden Erinnerns, das mit der Fokussierung auf diese 10 Jahre die Diskrepanz der Bewertung zwischen Kriegsende und „Befreiung“ 1945 und „Befreiung“ und Unabhängigkeit 1955 auflöst.

Expliziert wird dies im Aufruf der Bildungsministerin Dr. Elisabeth Gehrer an Schülerinnen und Schüler:

„Das Jahr 2005 wird ein wichtiges Gedenkjahr. Wir erinnern uns an Ereignisse, die Österreich stark beeinflusst und verändert haben: Vor 60 Jahren, im Mai 1945, endete der Zweite Weltkrieg. 7 Jahre herrschte dieser furchtbare Krieg, der vielen Menschen das Leben kostete, Städte in Schutt und Asche legte, unvorstellbares Leid und Zerstörung brachte.

Vor 50 Jahren, im Mai 1955, wurde der Staatsvertrag unterzeichnet. Damit wurde Österreich wieder zu einem freien, unabhängigen Land. Aus diesen Anlässen wollen wir gemeinsam ein großes Österreich-Album mit Fotos aus der Zeit zwischen 1945 und 1955 gestalten. Vielleicht findet ihr zu Hause auch alte Bilder eurer Großeltern oder Urgroßeltern – schickt uns eines dieser Fotos und die Geschichte dazu über diese Website. Ich freu mich darauf!“[15]

Der Charme dieser Konstruktion liegt ganz eindeutig darin, das Kriegsende mit der 2. Republik in Beziehung zu setzen, deren Gründung offenbar 10 Jahre brauchte, ein Indiz für die Komplexität zwischen Österreich als Opfer und ÖsterreicherInnen als Verantwortliche und Leidtragende zu differenzieren. Man konnte in „Österreich“ nicht einfach das Kriegsende feiern ohne die Frage nach den Verantwortlichen an den Nazi-Gräuel, die Frage der Verantwortlichkeit, die Frage der Schuld – nicht bloß der „Mit-Schuld“ – wenigstens zu stellen.[16]

Die Identifikation mit Österreich fiel vielen leicht, wurde dadurch die Verantwortung bestechend einfach ausgeblendet. 1942 existierte die topografische Bezeichnung Österreich nicht mehr. Alpen- und Donaugaue ersetzen den Gesamtbegriff, Niederdonau und Oberdonau die Regionalbezeichnungen. Die Verwendung des Wortes Österreich war mit Widerstand gegen den Nationalsozialismus konnotierbar, eine Widerstandsgruppe signierte mit O5 für „OEsterreich“, ein bis heute am Stefansdom in Wien kultiviertes Symbol. „Wie immer man auch zu den Dingen eingestellt war – und selbst unter den Mitläufern Hitlers dachten Zahllose so, nachdem sie aus dem Taumel der Illusionen und Lügen zur Wirklichkeit erwacht waren – […] alle Hoffnungen, die in diesem Land gehegt wurden, alle Sehnsüchte und Wünsche waren in dem einem heiligen Wort ausgedrückt, das ja alle verstanden, in dem heiligen Wort: Ö s t e r r e i c h! [17]

523.833 Nationalsozialisten [18] wurde 1945-1949 das Wahlrecht im Land von der Republik Österreich verweigert, sie waren keine „StaatsbürgerInnen“. Im Umkehrschluss waren ÖsterreicherInnen daher keine Nazis.

Der Ereignishorizont 1955

Der 15. Mai 1955 ist das symbolische aufgeladene Datum der Staatsvertragsunterzeichnung. Vorangegangen waren die Verhandlungen vom 12. bis 15. April in Moskau, die von österreichischer Seite höchstrangig geführt wurden [19]. Die Außenministerkonferenz der vier Besatzungsmächte und Österreichs am 14. Mai wurde von den alliierten Botschaftern in Wien vorbereitet, sodass den Außenministern nur mehr die Einigung über die österreichische Garantie zur Neutralität verblieb. Am 27. Juli beendete der Alliierte Rat in seiner 249. Sitzung seine Tätigkeit. Bereits am 19. September verließen die sowjetischen Truppen, am 21. Oktober die US-Truppen Österreich. Der symbolische Akt der Verabschiedung der Besatzungstruppen fand am 25. Oktober statt  und am 26. Oktober verabschiedete der Nationalrat das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität. [20] 1956 wurde der 26. Oktober als „Tag der österreichischen Fahne“, von einem Organisationskomitee als Bundesfeier geplant. Am 25. Oktober 1965 verabschiedete der Nationalrat das Bundesgesetz, das den Tag, als Österreich beschloss ein „dauernd neutraler Staat“ [21] zu sein, zum Nationalfeiertag bestimmte.

 

Welches Österreich?

An den 26. September 1946 und den 1. Kongress der „Gesellschaft zur Pflege der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion“ werden sich 60 Jahre später nicht mehr viele erinnern oder erinnern wollen. Die Teilnehmerliste umfasste die Spitze österreichischer Repräsentanten [22] Bemerkenswert waren die Grußadressen. Während in der von Bürgermeister Körner verlesenen Rede des krankheitshalber verhinderten Bundespräsidenten Renner kein Dankeswort für die „Befreiung“ durch die Rote Armee vorkam, nannte Unterrichtsminister Felix Hurdes als Vertreter der ÖVP zu Beginn seiner Rede „… den grandiosen Sieg der alliierten Waffen und insbesondere der Roten Armee …“ [Kursivsetzung d.d.V.], dem später der Satz folgte: „Durch die Befreiung Österreichs wurde uns wieder das Tor zur übrigen Welt aufgestoßen …“  [23] Der Festredner der SPÖ, Nationalrat Vizebürgermeister Speiser, stellte die rhetorische Frage: “… führten nicht russische und österreichische Sozialisten seit mehr als einem Jahrhundert dort ihren Freiheitskampf und hier ihren Freiheitskampf aus einem Geiste heraus?“ [24] Bürgermeister Körner zitierte in seiner Rede Lenins Aprilthesen [25], nannte die Oktoberrevolution „ die soziale Revolution im Oktober 1917“ [26] und fand die „revolutionäre Diktatur […] gerechtfertigt und demokratisch.“ [27] Solche Interpretationen sind mehr nicht zu erwarten.

Viel eher wird das, in Radio Moskau am 15. April 1945 verlesene Kommunique zitiert werden: „Die Bevölkerung von Wien und den anderen österreichischen Provinzen hat die Ehre Österreichs gerettet, indem sie durch ihre Unterstützung der Roten Armee die Deutschen verhindert hat, den Kampf noch einmal aufzunehmen. Ihr habt durch euren Beitrag zur Befreiung der Stadt unsterbliche Verdienste erworben“ [28] Diese Würdigung des Beitrages der österreichischen Widerstandsgruppen wird neu zu bewerten sein. Die Verdienste Carl Szokolls um die Vermeidung eines Häuser- und Straßenkampfes, wie etwa in Budapest, fanden erst seit wenigen Jahren Anerkennung. [29] Die Diskussionen um Gedenktafeln und Kasernennamen, die an Widerstandskämpfer erinnern, sollten nach 2005 nicht mehr von Fragen der „Pflichtverletzung“ oder des „Eidbruches“ belastet sein.

Das Frühjahr 1945 nicht als Befreiung zu sehen wäre in der Besatzungszeit politisch unkorrekt gewesen. Die Auseinandersetzung um österreichische Traditionen, österreichische Werte und österreichische Geschichte stand in den Nachkriegsjahren im Vordergrund, da die territoriale Festsetzung und die demokratisch-republikanische Staatsform außer Frage stand. Die „geistige Wiedergeburt Österreichs“ wurde als Frage der Anknüpfung gesehen: „Am liebsten hätte man es gehabt, dass die vergangenen Jahre nichts als ein böser Traum gewesen wären, aus dem jetzt erwacht -, um dort wieder anzufangen, wo man 1938 oder 1933 oder gar vor 1914 aufgehört hatte“ [30] Auch die Frage der Entnazifizierung gewann sehr schnell eine eigene Dynamik, galt es doch, „Deutschtümelei“ von nazistischer Betätigung zu trennen. „Es ist die eigenartige Problematik des österreichischen Staatswesens, dass es wohl aus seiner eigenen geschichtlichen Wurzel lebt, dass es aber außerdem an einem anderen Kultursystem Anteil hatte. […] Die Auffassung des Österreichertums als eines deutschen Stammes und als sonst nichts – dies die Auffassung Nadlers, Eibls, Lorenz´und so vieler anderer Historiker der Wiener Universität – hat die politische Geschichte und die wissenschaftliche Erkenntnis Österreichs selbst über fünfzig Jahre aufs einseitigste bestimmt.“ [31]

„Welches Österreich“ [32] ist aktuell geblieben. „Das Jubiläum „50 Jahre Zweite Republik“, das doch viel weniger Probleme zu bergen schien, hat – die Wehrmachtsaustellung einbezogen – die blauen Flecken gebracht, nicht das Millennium. Auch jene die im Aufarbeiten der Schattenseiten „unserer“ Vergangenheit die wichtige erzieherische Leistung historischer Gedenkfeiern und –ausstellungen sehen, konnten in der Präsentation der tausend Jahre Bereiche finden, die für sie gestaltet waren. Sie konnten betroffen und erschüttert sein, zusätzlich zum tolerant-verständnisvollen und kreativen Österreicher auch den untertänigen, verhetzt-aggressiv-gewalttätigen sehen, zum Österreicher auch die Österreicherin, sich daraus eine ambivalente Nation konstruieren, und aus dem einen, für sie guten Teil der Nation ihre nationale Tradition beziehen.“ [33]

Was werden HistorikerInnen 2006 über das Gedenken und Erinnern, über die Re-Organisation von Geschichtsbewusstsein im und durch das Gedenkjahr 2005 feststellen können?

[1] Falkenhausen, Susanne v.: Wie kommt Geschichte ins Bild. S. 284. in: Geschichtsdiskurs Band IV, Hrsg. Küttler, W., Rüsen J., Schulin E.. Fischer Taschenbuchverlag, 1997.

[2] Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, S. 20 in: Füßmann, Klaus. Grütter, Heinrich Theodor. Rüsen, Jörn. (Hg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln, Weimar, Wien 1994.

[3] vgl. Luhmann, Niklas. Die Wirtschaft der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1994. S. 302

[4] Jabloner, Clemens. Die Historikerkommission der Republik Österreich, S.15. in: Gedächtnis und Gegenwart. Informationen zur Politischen Bildung, Nr. 20, 2003. Hg. Forum Politische Bildung – Innsbruck, Wien, München, Bozen; Studien-Verlag 2003/2004

[5] Beide Beispiele gehören zur Kategorie “Geschichteunterricht”, sie wenden sich also an die gleichen Bevölkerungsgruppen (Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler) und sind solcherart geeignet, die unterschiedlichen Sichtweisen anzudeuten.

[6] The European Dimension in History teaching. Programm des Europarates: Key Questions zum Jahr 1945 (Ergebnis eines Symposiums: The Yalta-Conference 1945 and the Emergence of Cold War, Yalta 2003):

Circular Letter, COE, Directorate General IV, History Education Section, 2004

[7] Ein von Schülerinnen und Schülern einzurichtendes virtuelles Album. http://www.oesterreich-album.at/wettbewerbAllgemein.html

[8] Mit der „Befreiung“ begann an diesem auch Tag die „Besatzungszeit“. 2003 wurde diese Diskrepanz zu Geschichtspolitik durch eine Rede des FPÖ-Funktionärs und Volksanwaltes Dr. Ewald Stadler. In dieser sprach er von der „Besatzungszeit 1938-1955“, differenzierte also nicht zwischen der Besetzung 1938 durch die auch freundlich empfangene deutsche Wehrmacht und der 1945 erfolgten Besetzung durch alliierte Truppen – auch als unfreundlich sehbaren militärischen Akt, präzisiert von Dr. Stadler auf Soldaten der Roten Armee.

[9] Spann, Gustav.: Geschichte des österreichischen Nationalfeiertags. S. 6. in: Österreich in Geschichte und Literatur, Haft 1, 2004. Hrsg. Institut für Österreichkunde. Kommissionsverlag Wilhelm Braumüller, Wien.

[10] Spann, Gustav.: Geschichte des österreichischen Nationalfeiertags. S. 6. A.a.O.

[11] Weinzierl, Erika. Zeitgeschichte in Überblick, S. 234. in: Dusek, Peter. Pelinka, Anton. Weinzierl, Erika. Zeitgeschichte im Aufriss. Österreich von 1918 bis in die achtziger Jahre. TR-Verlagsunion, Wien 1981

[12] Weinzierl, Erika. Zeitgeschichte in Überblick, S. 234, A.a.O.

[13] Tonaufzeichnung unter http://www.mediathek.ac.at/zeitgeschichtschronik/1945_leopold_figl_weihnacht.htm, (5.10.2004) wo auch auf die Nachträglichkeit der Produktion hingewiesen wird:

„Ich kann Euch zu Weihnachten nichts geben. Ich kann Euch für den Christbaum, wenn Ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben. Ich kann Euch keine Gaben für Weihnachten geben. Kein Stück Brot, keine Kohlen zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben nichts. Ich kann Euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich. zit. n. Kleindel, Walter. Die Chronik Österreichs. Chronik Verlag, Dortmund 1984. S. 543.

[14] „Ich bekam den Text der Figl-Rede aus 1945 von Hans Magenschab. Von der Original-Radioansprache gibt es keine Magnetaufzeichnung – aber er hat sie 1945 gehalten, dafür gibt es Ohrenzeugen! Ich bitt’ also die Tante Hilli: „Wenn der Onkel Schwips [… das war sein Verbindungs-Name in der „Norica“. Ich hab ihn gar nicht anders gekannt, nur „Onkel Schwips“. E.W. Marboe im gleichen Interview, A.d.V.] nächstes Mal ins Funkhaus kommt, sag ihm, dass wir seine Weihnachtsrede historisch aufnehmen wollen. Er hat dann im Studio, vom Krebs gezeichnet, die Rede gelesen. Das ist die authentische Version. Die Aufnahme ist ein Remake der Rede, aber keine Fälschung. Er hat das autorisiert und gesprochen.“ Interviewausschnitt mit Ernst Wolfram Marboe, dessen Mutter die Cousine von Figls Frau [„Tante Hilli“, A.d.V.] war. http://www.kurier.at/zeitung/nachkommen/WM/index.php?artikel=484061 (5.10.2004)

[15] http://www.oesterreich-album.at/wettbewerbAllgemein.html (5.10.2004)

[16] Zum Teil aufgearbeitet wurde dies durch die Historikerkommission, 1998 -2003.

„Das Mandat der Kommission lautete: Den gesamten Komplex „Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw. Entschädigungen (sowie wirtschaftliche und soziale Leistungen) der Republik Osterreich ab 1945“ zu erforschen und darüber zu berichten. Bereits im Arbeitsprogramm wurde das Themenspektrum dargelegt: Der Bogen reichte vom Vermögensentzug bei Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti sowie anderen nationalen Minderheiten, Vereinen, Stiftungen und Fonds, der Israelitischen Kultusgemeinde, der Katholischen Kirche bis hin zu den Fragen der Rückstellungen und Entschädigungen nach 1 945. Erst im Verlauf der Forschungen zeigte sich, einerseits durch Aktenfunde, andererseits durch vertiefte Erkenntnis, dass weitere Bereiche wie etwa die Frage der Entschädigung durch das Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz, die Staatsbürgerschaft, das Steuerrecht, das Wertpapierrecht usw. ebenfalls einer näheren wissenschaftlichen Betrachtung zu unterziehen sind.“

Jabloner, Clemens. A.a.O. S. 17

[17] Hovorka, Nikolaus. Der Kampf um die geistige Wiedergeburt Österreichs. Vortragsreihe „Probleme der Zeit“. Hrsg. Zentralstelle für Volksbildung (KPÖ). Stern Verlag, Wien 1946. S. 5

[18] Weinzierl, Erika: Die zehn Besatzungsjahre. S. 240. in: Dusek, Peter. Pelinka, Anton. Weinzierl, Erika: Zeitgeschichte im Aufriss. TR-Verlagsunion, Wien 1981

[19] Bundeskanzler Julius Raab, Außenminister Leopold Figl, Vizekanzler Adolf Schärf, Staatssekretär Bruno Kreisky

[20] Das Gesetz beruht auf der im Moskauer Memorandum enthaltenen gegenseitigen Verpflichtungen unter Verweis auf die 1954 auf der Berliner Konferenz von Österreich abgegebenen Erklärung

[21] BGBL 298/1965

[22] Die Brücke, Monatshefte für Kultur und Wirtschaft, herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft zur Pflege der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion. Doppelheft 10/11, I. Jahrgang, Wien 1945, S.1 ff. Im Kongresspräsidium saßen u.a: Bürgermeister Körner als Ehrenpräsident, Unterrichtsminister Hurdes, Landeshauptmann Gleißner, die Burgschauspielerinnen Maria Eis und Else Wohlgemuth, Rektor Adamovich, ÖGB-Präsident Böhm, Manfred Mautner Markhof. Teilnehmer waren u.a. Bundeskanzler Figl mit Mitgliedern der Regierung.

[23] Die Brücke, A.a.O, S. 12 und 13

[24] Die Brücke, A.a.O, S. 15

[25] Die Brücke, A.a.O, S.5

[26] Die Brücke, A.a.O, S.5

[27] Die Brücke, A.a.O, S.5

[28] Die Brücke, A.a.O, S.13.zitiert von Unterrichtsminister Felix Hurdes in seiner Rede am 1. Kongress der „Gesellschaft zur Pflege der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion“.

[29] . Szokoll, Carl. Die Rettung Wiens 1945. Molden/Amalthea. Wien, 2001. S. 307 ff.

[30] Hovorka. A.a.O. S. 5

[31] Hovorka. A.a.O. S. 25

[32] Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ÖZG). Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1996. Titel des Heftes7/1996.

[33] Heiss, Gernot. Editorial.ÖZG 7/1996. A.a.O. S. 453. Vgl. Heiss, Gernot. Im „Reich der Unbegreiflichkeiten“. Historiker als Konstrukteure Österreichs. Im gleichen Heft S. 455-478.