Education for Democratic Citizenship 2005

erschienen in: ÖZB-Österreichische Zeitschrift für Berufsbildung 2-04/05, 23. Jahrgang, Manz-Verlag, 2005

Education for Democratic Citizenship – Demokratiepolitische Bildung
European Year of Citizenship through Education – 2005

 Das Jahr 2005 wurde vom Ministerkommitee des Europarates als „European Year of Citizenship through Education“ proklamiert. In der Zielsetzung wurde explizit auf ein Defizit an Interesse und Partizipation im politischen und öffentlichen leben hingewiesen, besonders der jüngeren Generation: Recent elections in most European countries show a worrying deficit of interest and participation in political and public life, notably among the young generation. [i]

Das EDC-Programm des Europarates

Education for Democratic Citizenship[ii] (EDC) wurde als Schwerpunktprogramm des Europarates 1997 ins Leben gerufen. Im Vordergrund stand zunächst eine Bestandsaufnahme der Bedürfnisse, eine Festlegung der Paradigmen und die Entwicklung prozessorientierter Strategien zur Etablierung eines Systems formeller und informeller Strukturen. Die Ausrichtung verfolgte die Ziele der Nachhaltigkeit, der ständigen, lebenslangen Beschäftigung unter den Aspekten globaler, universeller und multidimensionaler Perspektiven demokratischer Partizipation. Citizenship, am ehesten als partizipative Teilnahme an in Staaten organisierten Gesellschaften zu verstehen, drückt ein innovatives Modell demokratischen Zusammenlebens aus. Nicht mehr die Staatsbürgerschaft eines Nationalstaates steht im Vordergrund, nicht mehr die Kenntnis der Institutionen, des Rechtssystems oder der Freiheiten und Rechtsansprüche. Citizenship handelt in öffentlichen Räumen, auf lokaler, regionaler, nationaler, inter -oder supranationaler Ebene, überall dort, wo Individuen ihre unterschiedlichen Interessen und Ansprüche artikulieren und dennoch gemeinsam handeln können/sollen/müssen.

EDC stellt, mit einer wichtigen Ausnahme, universalistische Werte und deren Durchsetzung und Verteidigung nicht in den Vordergrund. Diese Basiswerte demokratischer Partizipation bilden die Menschenrechte, wobei Menschenrechtsbildung (HRE-Human Rights Education) gleichrangig neben EDC steht:

“The main priorities set for the future by the Athens Conference are: managing diversity, intercultural education and quality education. The message from Athens is, in a nutshell, that all educational activities – and this includes EDC and HRE – must take into account the cultural and social diversity of European learners, encourage intercultural learning and social inclusion while providing quality education to all. This message should apply to all activities in the framework of the “Year”.”[iii]

 

Subformationen von Politik und Gesellschaften

Individuen transportieren öffentliche Regulative politischer Steuerungsmedien, wie Macht, Geld oder Recht in den privaten Alltag und kommunizieren lebensweltliche Ansprüche indem in sie sich in formellen Einrichtungen, Kammern, Gewerkschaften oder Parteien engagieren, zu informellen Gruppen, etwa Bürgerinitiativen zusammenschließen oder als nonformale Gemeinschaften, etwa als WählerInnen einer Partei, Meinungen abbilden, Stellung nehmen und entscheiden.

Die Trennung einer privaten Sphäre von einer politischen Öffentlichkeit ist ein demokratisches Grundprinzip. In liberalen (westlichen) Demokratien geschieht dies formell durch rechtliche Garantien – des Eigentums, der Familie oder der elterlichen Pflichten gegenüber ihren Kindern. Die Teilnahme an der Öffentlichkeit wird durch Grundrechte, wie Rede- und Meinungsfreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit sichergestellt. Neben diese liberalen Normen treten in unterschiedlicher Ausprägung  „sozialstaatliche“[iv] Absicherungen. Formale Rechtsgrundlagen sind alleine, ohne die materielle Absicherung privater Individuen in einem sich als Solidargemeinschaft verstehenden Staat ungeeignet, die Partizipation an demokratisch organsierbarer Artikulation sicher zu stellen. Politik setzt finanziell dazu in der Lage befindliche TeilnehmerInnen voraus, daran hat sich seit der hellenischen Antike, dem Mittelalter und dem Absolutismus grundsätzlich nichts geändert. Im Zuge der Aufklärung im 18. Jahrhundert entstand zunächst die Forderung nach einer Gewaltentrennung, als eine rechtliche Form Gesetzgebung, Gesetzesvollzug und Rechtssprechung von einander zu trennen, was allerdings die Frage einer staatlichen Solidargemeinschaft nicht berührte.[v] Zugenommen hat in den liberalen, kapitalismusnahen, marktwirtschaftlich orientierten Demokratien und informierten Massengesellschaften Europas nicht nur die Zahl der grundrechtlich festgelegten Teilhabefähigen, sondern auch deren materielle Absicherung als politische Aufgabe, allerdings eng verbunden mit der Berufstätigkeit als Basis sozialer Ansprüche. In Verbindung mit (neo-)liberalen Wirtschaftsformen bestimmt nunmehr die „Sozialstaat“-Diskussion, die Sicherung der Erwerbstätigkeit und Berufsfähigkeit [vi] mit den Schlagworten „Vollbeschäftigung“ oder „lebenslanges Lernen“ die Diskussion seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Schlagworte „wohlerworbene Rechte“ versus „Unfinanzierbarkeit des Sozialsystems“ sind zur gängigen Sprachpraxis in der Alltagsartikulation unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Konzepte geworden.

Fragmentierte Gesellschaften, an deren Bewusstseinsprägung zu Beginn (1979) die Margret Thatcher zugewiesene Formel der „Zweidrittel-Gesellschaft“ stand, setzen genau an diesem Punkt der materiellen Garantien an: Politik erscheint zunehmend als Reduktion auf die Dimension eines Verteilungskampfes um Bestand oder Abschaffung von öffentlichen Transferleistungen. [vii] „Die ökonomische Sphäre der Märkte hat sich mehr denn je dem staatlichen Zugriff entzogen und ihre zügellose Dynamik bietet eher Anlaß zu Kritik, als daß sie noch Potential der Hoffnung auf Wohlstand für alle wäre.“[viii]

Auch auf der untersten Ebene gesellschaftlicher Organisation, den Familien, ist eine Veränderung beschreibbar, die nicht nur Ausdruck einer Verkürzung der Bindungsdauer darstellt. Das Konzept „Familie“ an sich unterliegt einer Reorganisation. Alleinerziehende Elternteile oder diachrone Lebenserfahrungen in Immigrantenfamilien sind, empirisch betrachtet, gesellschaftliche Normalität. Ausschließende –esoterische –  Gruppenbildungscodes, schreiben Leitkulturen vor, deren Codes definiert und einhaltbar gemacht werden und vor der Integration zu übernehmen sind. Der Abbau traditioneller Gebundenheiten in lebenslangen, gestaltbaren und sich an geänderten Lebensumständen anpassbaren Gemeinschaften, geht auch einher mit einer Flexibilisierung von gesellschaftlicher Durchlässigkeit, verbunden mit lebensabschnittsbezogenen Perspektiven und daraus resultierenden Veränderungen der Erwartungen und Ansprüche. Jugendliche erleben das verstärkt in den „Hotelfamilien“ durch die Zunahme der zeitlichen Schere zwischen dem emotionalen Ablösungsprozess von Eltern oder Herkunftsfamilien und der materiellen Ablösung und Selbständigkeit.[ix]

Politische Partizipation als Programm

„Learning and Living Democracy“ fordert „education policy makers, practitioners, and specialists, including NGO´s“ [x] auf, Initiativen zu setzen, um Perspektiven zu reorganisieren. Die Stärken der Programmatik von Education for Democratic Citizenship, liegen darin, die Entwicklung der demokratischen Partizipation, des sozialen Zusammenhaltes, des interkulturellen Verstehens und die Achtung der Unterschiedlichkeit und der Menschenrechte [xi] gleichzeitig als Disposition und Bedürfnis wie auch als Zielvorstellung anzuerkennen, sie nicht nur zu kennen, sondern lebendig zu gestalten und als Handlungsprinzipien umzusetzen. Partizipationsfähigkeit ist dabei die zentrale Kategorie demokratiepolitischer Bildung, weil „ein Funktionieren politischer Partizipation […] von der Kooperations- und Koalitionsbereitschaft abhängig [ist], weil das Beharren auf Entweder/Oder-Standpunkten zur Entscheidungsunfähigkeit führen oder in autoritäre (Mehrheits-)Entscheidungen ohne Berücksichtigung von Minderheitsrechten münden kann.“ [xii]

Perspektive

Partizipation ist davon abhängig, ob Konzepte wieder denkenswert werden können, die jenseits von (wirtschaftlichem) Pragmatismus und (religiösem) Fundamentalismus unideologische Perspektiven eröffnen können. Gefragt sind politische Utopien, nicht im Sinn einer praktikablen oder gewaltsam durchzusetzenden Ideologie, vielmehr als einer breiten Öffentlichkeit bewussten Entwürfe, die zur Diskussion auffordern und – wieder stärker – die Gestaltbarkeit von Politik durch die Teilhaber der Macht interessant machen: Education for democratic citizenship (EDC) and human rights education (HRE) can help develop critical thinking and learning to live together. They favour mutual understanding, intercultural dialogue, solidarity, gender equality and harmonious relations within and among peoples. They promote a sense of belonging to and an awareness of the Council of Europe’s values and principles of freedom, political pluralism, human rights and the rule of law. [xiii]

Demokratiepolitische Bildung wird sich nicht alleine auf eine Regelungskompetenz ziviler Gesellschaften [xiv] berufen können. Die „Zivilgesellschaft“ an sich ist kein inspirierendes Gegenmodell, denn sie unterscheidet bloß zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungsmacht, artikuliert „vergessene“ Anliegen, organisiert Widerstand, konkretisiert Endszenarien und verunsichert aus Mangel an Komplexität. Demokratiepolitische Bildung sollte luzide Visionen für die Gestaltbarkeit und weniger [finistre, stammtischfaustgeballte] argumentationslose Frames gegen die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft generieren.

[i] 2005 – the European Year of Citizenship through Education  “Learning and Living Democracy”, http://www.coe.int/T/E/Cultural_Co-operation/education/E.D.C/Documents_and_publications/By_subject/Year_2005/Info%20Doc%20Year%20Color%20%2028_09_04.pdf  , Präambel, S. 1. [Anm.: unter der Adresse www.coe.int/edc wird eine fast vollständige Sammlung von Dokumenten zum EDC-Programm bereitgestellt]

[ii] zu den Problemen der Übersetzung siehe: O´Shear, Karen: Glossar zur demokratiepolitischen Bildung. Vorwort zur deutschen Übersetzung, BMBWK, Abt. Politische Bildung und Umweltbildung, 2004, S. 5f.
[iii] European Year of Citizenship through Education 2005. Learning and Living Democracy. Concept paper. http://www.coe.int/T/E/Cultural_Co-operation/education/E.D.C/Documents_and_publications/By_subject/Year_2005/Year_concept_paper.PDF, S.4
[iv] Habermas, Jürgen. Strukturwandel der Öffentlichkeit. Hermann Luchterhand Verlag, Darmstadt und Neuwied, 197910 S. 167 ff.
[v] vgl. Rifkin, Jeremy. Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht. Campus. 2004. In diesem Buch weist Rifkin auf die Unterschiede zwischen den USA und den Staaten der Europäischen Union hin. Den Unterschied sieht Rifkin  in der „steckengebliebenen“ Verwirklichung eines aufklärerischen Staatsmodells in den USA , das nicht mehr, wie in Europa, eine humane Sozialpolitik entwickelte.
[vi] Kreisky, Eva. Die Phantasie ist nicht an der Macht … .in: Österreichische Zeitschrift für Politikwisenschaft, Heft 1/2000. Nomos Verlag. S. 19
[vii] vgl. Habermas, Jürgen.Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien. In: Habermas, Jürgen (Hrsg.) Die neue Unübersichtlichkeit. S. 141 f., 1985
[viii] Rüsen, Jörn. Utopie neu denken. In:Rüsen, Jörn. Fehr Michael. Ramsbrock Annelie (Hrsg.): Die Unruhe der Kultur. Velbrück Wissenschaft. Welierswist 2004. S. 9 [Anm.: Rechtschreibung Jörn Rüsen]
[ix] Himmelmann, Gerhard: Demokratie-Lernen: Was? Warum? Wozu?. In:Edelstein, Wolfgang, Fauser Peter (Hrsg.): Beiträge zur Demokratiepädagogik. Eine Schriftenreihe des BLK-Programms „Demokratie lernen & leben“, Berlin 2004, S. 3
[x] 2005 – the European Year of Citizenship through Education  “Learning and Living Democracy”, COE, AaO.
[xi] 2005 – the European Year of Citizenship through Education  “Learning and Living Democracy”, COE, A.a.O, S. 1
[xii] Filzmaier, Peter. Gedanken zur Politischen Bildung… .http://gsk.pi-noe.ac.at/start_ma.htm (21.02.2004)
[xiii] Concept Paper, COE, A.a.O. S. 3
[xiv] zum Begriff vgl.: Infoblatt der Servicestelle Politische Bildung, 2/2002. Eigenvervielfältigung BM:BWK. John Locke, auf den der Begriff zurück geht, verstand darunter eine auf sich selbst bezogene, vom Staat unabhängige Organisation, die einen gemeinsamen Willen artikulieren kann. S. 1.