Die luzide Vision einer gebildeten Gesellschaft im 19. Jahrhundert

Friedrich Öhl

Die luzide Vision einer gebildeten Gesellschaft im 19. Jahrhundert

Die Bildungs -bzw. Erziehungstheorien des frühen 18. Jahrhunderts

Die Bildungsdiskussion um 1700 bestimmten die der Reformer Ratke und Comenius. Beider Intention verbündete sich mit dem Streben der Landesherrn nach allgemeinem Schulzwang und einem einheitlichen Volksschulwesen; Volksschule ist dabei noch im ursächlichen Wortsinn zu verstehen, nämlich als eine Schule des Volkes, oder, in absolutistischer Terminologie, das Volk zu erziehen und soweit zu bilden, dass es dem Staat Nutzen bringe. Der gelehrten humanistischen, vom Bürgertum der Städte getragenen Bildung, wie sie im 17. Jahrhundert in vielen Landesschulordnungen zum Ausdruck kam, stand die adelige Standeserziehung zum idealen Hofmann entgegen. Der Umgang mit Büchern sollte dabei durch den persönlichen Kontakt ersetzt werden, Hofmeistererziehung statt Schulerziehung. In den Ritterakademien und Adelsschulen stand weniger wissenschaftliche Kenntnis im Vordergrund, als vielmehr Lebenskunst, Fechten und Reiten. Der Abschluss des Bildungsgangs war nicht wie bei Comenius das Universitätsstudium, sondern das Reisen. Die vielen Fürstenspiegel sind Zeugnisse dieser Bildung.

Am Ende des 17. Jahrhunderts entstand in den anglikanischen Ländern und den evangelischen deutschen Ländern der Pietismus, „der Aufstand des Herzens gegen die haarspalterische, lebenstötende Theologengelehrsamkeit“. Der Titel von August Herrmann Franckes 1702 erschienener Schrift „Kurzer und einfältiger Unterricht, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und christlichen Klugheit anzuführen sind“ ist zugleich auch eine Kurzfassung dieser Pädagogik. Strenge Zucht ist ein willkommenes Mittel, den „verderblichen Eigenwillen der Kreatur“ zu brechen. Das von Francke 1698 in Halle gegründete Waisenhaus umfasste mehrere Internatsschulen und Wirtschaftseinrichtungen, etwa Apotheke, Krankenhaus, Buchhandlung, Druckerei und landwirtschaftliche Güter. Die Bedeutung dieser Einrichtung bestand einerseits darin, dass eine Lehrerbildungsanstalt angeschlossen war, die viele Schulen versorgen sollte und andererseits auch so genannte praktische Fächer unterrichtet wurden. Neben Mineralogie, Landwirtschaft und Anatomie wurde auch Drechseln, Glasschleifen, Gartenarbeit und Stricken gelehrt. Johann Julius Hecker, zunächst Schüler und Lehrer in Halle, gründete in Berlin eine ökonomisch-mathematische Realschule unter der Patronanz Friedrich Wilhelms I. Die allgemeine preußische Schulordnung von 1713, wie die Verordnungen über die allgemeine Schulpflicht von 1716 sind geprägt vom Geist des Pietismus.

Jean Jaques Rousseau (1712-1778)

Im 1762 erschienenem Erziehungsroman „Emile ou de l`éducation“ erklärt Rousseaus seinen Naturbegriff als etwas Echtes, Lebensunmittelbares, Ungekünsteltes, eben Einfach-Wahres. Die radikale Abwendung von bisher Tradiertem, die er im so genannten. zweiten Discours vollzog, sodass Voltaire ihn fragte, ob er gedenke, die Menschen „wieder zu Tieren zu machen“, erklärt er in seinem zweiten Hauptwerk, dem ebenfalls 1762 erschienen „Contrat social„.

Der „volonté générale„, der allgemeine Wille, dem sich Einzelne in einem gegenseitigen Gesellschaftsvertrag unterstellen, ist nicht einfach „volonté de tous“, der Wille aller, sondern eine übergeordnete, unteilbare Ganzheit, eine Harmonie zwischen dem Gesamtinteresse und dem Interesse jedes Einzelnen. Ziel des durch den Gesellschaftsvertrag entstandenen Staatswesens ist es, bei allen Bürgern die Verantwortung für die Ganzheit zu wecken und die Gleichheit aller zu wahren.

Im „Emile“ grenzt Rousseau die natürliche Erziehung von der Standes- und Berufserziehung ab, wenn er schreibt: „Wenn er aus meinen Händen hervorgeht, wird er weder Richter, noch Soldat noch Priester sein, er wird Mensch sein“. Das Allgemeinmenschliche wird allem anderen übergeordnet. Rousseau übernimmt von der Aufklärung den Gedanken, dass der Mensch von Anfang an gut sei; dies ist auch der Anfang des Emile: „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht; alles entartet unter den Händen der Menschen.“ Rousseau entdeckt, dass das Kind kein kleiner Erwachsener ist, und er richtet damit sein Augenmerk auf die natürliche Entwicklung: „Jedes Alter, jeder Zustand des Lebens hat eine Vollkommenheit, die nur ihm entspricht, eine Reife, die nur ihm eigentümlich ist„. Deshalb soll der eine Erzieher, den ein Kind haben soll, in den Hintergrund treten, das Kind soll seine Erfahrungen an Dingen machen und nicht an den Launen der Umgebung. Emile erhält keine Kenntnisse, er erarbeitet sich Wissen selbst, aufgrund einer natürlichen Wissbegierde und Freude am Lernen.

Die Erziehung vom 3. bis zum 12. Lebensjahr ist der Ausbildung des Körpers und der Sinne gewidmet. Vom 12. bis zum 15. Lebensjahr erfolgt die Orientierung in der dinglichen Umgebung. Vom 15. Lebensjahr bis zur Heirat wird Emile ein sinngeübter, denkender Mensch, ein fühlendes und liebendes Wesen. Mit den Worten: „Lehrt euren Zögling alle Menschen lieben, selbst diejenigen, welche mit Verachtung auf ihre Mitmenschen herabblicken. Erzieht ihn so, dass er sich nicht als Glied einer besonderen Klasse betrachte, sondern sich in allen wieder finde“ mahnt Rousseau die Erzieher zu Humanität.

Immanuel KANT (1724-1804)

Die Pädagogik Kants lässt sich von der Pflicht zur Einhaltung eines Sittengesetzes ableiten, das er der aufklärerischen Nützlichkeits- und Glückseligkeitsmoral entgegenstellt. Der Mensch Kants ist ein sittliches Vernunftwesen, der Mensch ist Selbstwert und Selbstzweck. „Alle Dinge haben einen Preis, der Mensch allein hat Würde“. Erziehung ist für Kant frühe Gewöhnung an Pflicht und Disziplin, um zur Beherrschung der sinnlichen Natur, zur sittlich autonomen Persönlichkeit zu gelangen, der die Menschheit heilig ist.

Johann Heinrich PESTALOZZI (1746-1827).

Die Überhöhung des Ideals der reinen Menschenbildung gegenüber einer Berufs- und Standesbildung bestimmte die Volkserziehungslehre Pestalozzis. Auch Pestalozzi geht aus von der „Idee einer Elementarbildung“, einer Bildung für alle, auch er arbeitete zunächst in einer Armenanstalt, dem von ihm errichteten Neuhof. Mag sein, dass er durch die Erziehung der Kinder, die ohne Familie aufwuchsen, die familienhafte Gestaltung des Lebens in das Zentrum seiner Erziehung zu echter religiöser Sittlichkeit stellte, neben der intellektuellen Bildung und der Bildung des Körpers und der Handfertigkeit. Pestalozzi analysierte und formalisierte in erster Linie die intellektuelle Bildung (das Erfassen von Form, Zahl und Sprache), insofern ist seine Erziehungslehre eine der Aufklärung. In einer mechanistischen Deutung eines „Fortschreitens von Anschauungen zu deutlichen Begriffen“ entstand volle Erkenntnis durch Summierung von Elementarem. Die aus heutiger Sicht völlig verworrene Sprachlehre formalisiert diese Hypothese: Aus sinnlosen Lauten und Silben entstehen durch Addition sinnvolle Wörter, durch Addition der Wörter Worte.

Wilhelm von HUMBOLDT (1767-1835)

Humboldts Erziehungslehre entsprach dem Denken der deutschen Klassik, der Goethezeit. Wie in Goethes Dramen eine einzelne Persönlichkeit durch ihr Tun auf die Gesellschaft Einfluss nahm, war auch Humboldt überzeugt, dass „nichts auf Erden so wichtig ist als die höchste Kraft und die vielseitige Bildung der Individualität“, und dass daher „der wahren Moral erstes Gesetz ist: bilde dich selbst, und nur ihr zweites: wirke auf andere durch das, was du bist“. Der Liberalismus hatte eine Erziehungsideologie erhalten.

Friedrich FRÖBEL (1782-1852)

Pestalozzis Schüler Friedrich Fröbel schließlich vollendete die Erziehungsideologie der Aufklärung, indem er sich mit der Vorschulbildung befasste. Von ihm stammen der Gedanke und der Begriff des „Kindergartens„. Er befasste sich mit der Bedeutung des Spielens: „Das Kleinkind spielt, der Knabe macht Spiele“. Auf Fröbels Initiative entstanden die ersten Kindergärten, in denen Kinder mit Bällen, Kugeln, Würfel, Walzen, Holzbauklötzchen, Legetafeln, Flechtblättern und Faltblättern spielten .

Damit war ein Bildungssystem geschaffen. Kindergarten und Volksschule für alle, Weiterbildung in Gymnasien und Realschulen für wohlhabende, Universitäten für bürgerliche und zunehmend auch adelige Eliten. Nachdem das Bildungssystem die Zeit der Kindheit und Jugend und den Beginn der Adoleszenz umfasste, also kaum mehr ausbaufähig war, begann die Strukturierung. Lehrpläne, sogenannte Regulative vereinheitlichten die Inhalte.

Johann Friedrich HERBART (1776-1841)

Herbart ging von einer einfachen Psychologie aus,, die alles seelische Geschehen als Abfolge von Selbsterhaltungsakten, Störungserscheinungen und als Vorstellungsgeschehen erklärt. Daraus leitete er eine Mechanik des Geistes ab, bei der Anziehung oder Spannung der Vorstellungen zu Veränderungen oder Verschmelzungen, Verknüpfungen (Assoziationen) und Reproduktion (Gedächtnis,, Phantasie) führen. Die Ethik allgemeiner Werturteile (das Gefallen, das Missfallen) soll das Erziehungsziel der „Charakterstärke der Sittlichkeit“ vorgeben, die Herbartschen Unterrichtsverfahren beruhen auf dieser Psychologie. In den Mittelpunkt der Erziehung stellte er vielseitiges Interesse, wobei Interesse „die Tendenz von Vorstellungen, Wille zu werden“ ist. Durch den Unterricht wollte er dieses Ziel erreichen. Er gab dem Unterricht einen äußeren Rahmen , die „Regierung„, d.i. äußerer Zwang unter „einem stets fühlbarem Druck„, der sowohl Liebe als auch Strafe durch den Lehrer sein kann. Der eigentliche Unterrichtsablauf, die „Zucht„, soll die innere Haltung des zu Erziehenden auf sittliche Grundsätze ausrichten. Sein Unterrichtsverfahren beruht auf einer primären Vertiefung und einer folgenden Besinnung in 4 Stufen:

  1. ruhende Vertiefung, die klare Erfassung des einzelnen
  2. die fortschreitende Vertiefung, die Assoziation, die Verknüpfung vertiefter Gegenstände
  3. die ruhende Besinnung, das System genannt, die Eingliederung eines Objekts in ein ganzes
  4. die fortschreitende Besinnung, die Methode genannt, der Schritt von der systematischen Überschau zu Übung und Anwendung

Diese Formalstufen sind auf allen Ebenen des Unterrichts anzuwenden, sowohl im Unterrichtssystem als auch im Unterrichtsablauf kleinster Unterrichtseinheiten. Tuiskon ZILLER (1817-1882), ein Herbartianer, unterteilte die erste Stufe und gelangte so zu der, didaktische Modelle bis heute beeinflussenden Schematisierung von Unterrichtsstunden:

Vorbereitung,
Darbietung,
Verknüpfung,
Zusammenfassung
Anwendung.

Mit der Pädagogik Herbarts wurde

  • (Schul-)Unterricht zum wichtigsten Teil der öffentlich regulierten Erziehung und
  • Bildung wurde schematisiert und formal gestaltbar.