Zeitzeugen und Zeitzeuginnen und Geschichtspolitik

ZeitzeugInnen und Geschichtspolitik (Text als pdf)

© Friedrich Öhl

ZeitzeugInnen
kulturelle Überlieferung und Geschichtspolitik

Geschichtspolitik unter dem Aspekt der „kulturellen Überlieferung“ zu betrachten, bedeutet ein interdisziplinäres Konzept anzuwenden, das über die Frage nach dem „Gedächtnis“ an eine vergangene Zeit hinausgeht, wie auch das Schlagwort von der „Vergangenheitsbewältigung“ nur einen Teilbereich einer Geschichtskulturrezeption ausmacht. Der Begriff einer „Erinnerungskultur“ bezieht zu wenig die öffentliche Rezeption im Kontext einer bestimmten Zeit ein, wohingegen der Begriff einer „kulturellen Überlieferung“ nicht in erster Linie nach der Vergangenheit fragt, sondern die Rezeption des Erinnerns als Teil der Gegenwartskultur verortet, traditionsgebend in der Zeit der Verwendung von Erinnerungen.

Geschichtspolitik hat zumindest zwei Deutungsfelder: Einerseits die Instrumentalisierung von Vergangenheit in einer Gegenwartssituation, andererseits die (Re-) Konstruktion von Wertvorstellungen und Deutungsmustern als Kohärenz stiftende Elemente einer Gesellschaft und als Inszenierung von Geschichtsbewusstsein.[1]

Die Funktion von „Zeitzeugen“

Mit der Zeitspanne zwischen Vergangenheit und Gegenwart verändert sich die kulturelle Überlieferung, sie ist abhängig von den Moden des Reflektierens und des politischen Gebrauchs, der inneren und der von außen nachgefragten Bewusstheit der Geschichten über eine vergangene Zeit. [2] Dementsprechend sind die Gedächtnisorte, die Erinnerungsorte, die publizierten Biografien, die filmische „Aufarbeitung“ in Form von TV „Infotainment“-Sendereihen und Serien, oder die Konstruktionsversuche transgenerationaler Lebenswelten in Schulen Ausdruck des jeweiligen Zeitgeistes. Opfer werden zu Anklägern, auch wenn sie im Sinne Simon Wiesenthals „Gerechtigkeit und nicht Rache“ einfordern, Täter und Mitläufer reflektieren ihre Rolle vor dem Hintergrund der Normalität eines außergewöhnlichen Alltags.

Zeitzeugen stellen ein Bindeglied zwischen der Unmittelbarkeit des Erlebten und der Gegenwart dar, in der sie die vergangene Zeit bezeugen. Sie stellen sich der Gegenwart zur Verfügung im Bewusstsein, Teil einer Geschichtspolitik zu sein, die sie etabliert haben oder gegen die sich verwahren. Sie sind in jedem Fall aktiver und passiver Teil der Geschichtspolitik, Reporter von Vergangenheit, Teilhaber an Geschichten und Bestandteil einer Reflexion von Vergangenheit. Sie erzeugen Bewusstsein, indem sie Authentizität vermitteln, Wahrheiten für sich reklamieren, Details wissen, die nur sie kennen können. Sie sind sich ihrer Gedächtnisleistungen genauso bewusst wie ihrer Gedächtnisschwächen, sie sind sich ihrer von der Öffentlichkeit zugewiesenen Bedeutung bewusst, schätzen die Nachfrage nach ihren Schilderungen. Sie sind die Opas und Omas der Öffentlichkeit, die der Enkelgeneration ihre eigenen Reflexionen erzählen. HistorikerInnen sind sie nicht. Sie produzieren Quellen im Rückblick, die in Geschichten differenter Vergangenheiten re-konstruiert werden können.[3] Zeugen dienen im Gerichtsverfahren der Suche nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit, ihre Funktion ist richtig und falsch zu ermitteln, um urteilen zu können. „Zeitzeugen“ können diese Aufgaben vielleicht in einem eng definierten Rechtsrahmen erfüllen, im Bezug auf Geschichtsbewusstsein und Geschichtspolitik haben sie eine andere Aufgabe. Sie bedienen eine Öffentlichkeit und eine Erinnerungskultur, die weniger nach Re-Konstruktionen der Vergangenheit fragt, als nach Identifikation oder emotionaler Betroffenheit, und erst im schlechtesten Fall nach Wahrheit und Wirklichkeit.

Zeitzeugen die das nationalsozialistische Regime noch bewusst miterlebt haben werden zahlenmäßig eine immer kleinere Gruppe, diese werden herumgereicht und, medial präsentiert. Fernsehanstalten und Verlage können mit einem kalkulierbar großem Interessentenkreis rechnen, der aus den Deutungsvarianten der Vergangenheit Gegenwarts- und/oder Zukunftsbedeutung kreiert. Zeitzeugen operieren vor dem Hintergrund eines kollektiven Bewusstseins der Verdrängung bis hin zur Negation der Vorstellbarkeit menschlicher Gräueltaten im Sinne der Verhinderung einer Wiederholung. Insofern sind Zeitzeugen die Korrektive einer sich pluralistisch, demokratisch und human identifizierenden Gesellschaft. Mit der kulturellen Überlieferung ihrer Biografien, den subjektiv ex post rekonstruierten partiellen Narrativen ergänzen und konterkarieren ZeitzeugInnen andere geschichtspolitische Konstruktionen von Gesellschaften.

 

Literatur

Anmerkung: Über eine Suchmaschine können im World Wide Web mit der Eingabe „Geschichtspolitik“ viele lesenswerte Aufsätze gefunden werden, von denen einige ein umfangreiches Literaturverzeichnis aufweisen. ( zB. Uhl, Heidemarie . Denkmalkultur in der Zweiten Republik, http://www.oeaw.ac.at/kkt/uhl2.html/ vom 18. 3. 2004, mit Literaturangaben)

Hödl Sabine / Lappin Eleonore (Hrsg.) (2000): Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, Berlin/Wien,

Uhl, Heidemarie (Hrsg.) (2004): Steinernes Bewusstsein II Die öffentliche Repräsentation staatlicher und nationaler Identität Österreichs in seinen Denkmälern, Wien

In der BRD ist seit den 90er Jahren eine breite Aufarbeitung des Themas publiziert worden.

Frei, Norbert (1999): Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München.

Küttler, Wolfgang/Rüsen, Jörn/Schulin, Ernst (Hrsg.) (1999): Geschichtsdiskurs (Band 5). Globale Konflikte, Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945. Frankfurt am Main.

Nora, Pierre: (1990):Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin

Füßmann, Klaus / Grütter Heinrich Theodor / Rüsen, Jörn (Hrsg.) (1994)::Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln/Weimar/Wien.

Schönhoven, Klaus (2003): Geschichtspolitik. Über den öffentlichen Umgang mit Geschichte und Erinnerung. Bonn.

Wolfrum, Edgar (1999): Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt

 

[1] Geschichtspolitik ist erkennbar an den Erinnerungstagen oder Jahren und an der Deutung und Präsentation des Erinnerungsereignisses. Selbst eine übliche jährliche Kranzniederlegung eines Regierungsmitglieds verläuft vor der Kulisse der teilnehmenden Öffentlichkeit jeweils unterschiedlich, etwa Anwesenheit von Journalisten, Fotoreportern, inländischen oder ausländischen Fernsehteams. Dennoch sind sie immer auch auf die jeweilige tagespolitische Situation bezogen, die den Erinnerungstagen gegenwärtige Bedeutung zuweist.

[2] Der Interpretationsraum zwischen einer Geschichtspolitik, die sich als konstitutives Element, als geschichtliche Basis, eines gesellschaftlichen Konsenses versteht und der tagespolitischen Instrumentalisierung von Vergangenheit und Geschichte ist fließend.

[3] Der Begriff „Zeitzeugen“ erscheint zunehmend fixiert auf die letzten lebenden Opfer des Naziregimes oder der Widerstandskämpfer gegen das Dritte Reich. Die Täter sind Gerichtsfälle und keine Zeitzeugen im üblich gewordenen alltäglichen Sprachgebrauch.

 

ursprünglich erschienen in: Der letzte Kronzeuge Stauffenbergs. Carl Szokoll und die Zivilcourage. Stadt Wien, 2005